01 December 2011

Reflexionen zu Husserl, der Phänomenologie und der Wissenschaft



 Phänomenologie als eine der einflussreichsten philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts ist immer wieder Gegenstand des erneuten Interesses. Sie hat einen entscheidenden Einfluss auf zahlreiche Denker und konkrete Wissenschaften ausgeübt und tut dies bis heute. Auf die Phänomenologie wird man in verschiedenen aktuellen Kontexten aufmerksam: den philosophischen Kernfragen der Kognitionswissenschaften, der Analyse der ästhetischen Text- und Bildverständnisse, der Begegnung mit fremden Kulturen, der Diskussion über soziale Strukturen oder konkrete Aufgaben der Entwicklungspsychologie und Pädagogik (z. B. bei der Analyse des Verhältnisses zwischen Mutter und Kind [vgl. Meyer-Drawe 1987]). Obwohl diese imposante Liste fortgeführt werden könnte, bleibt ein Aspekt in der Diskussion unberücksichtigt – nämlich der Zusammenhang zwischen Phänomenologie und Methodologie der Naturwissenschaften. Paradoxerweise wurde in der Entstehungsphase der phänomenologischen Methode ihre Beziehung zur Wissenschaft als eine Grundlage für weitere philosophische Betrachtungen wahrgenommen. 
Die phänomenologische Methode, die durch Edmund Husserl (1859-1938) begründet wurde, ist eine Vorschrift, die Sachen selbst, also in ihrem Wesensgehalt erscheinen zu lassen – mithilfe eines sich in die jeweiligen philosophischen Gebiete sachgemäß einfühlenden Schauens und Aufdeckens. Diese Methode operiert mit einem besonderen Begriffsapparat, der charakteristisch ist. Die Grundkonstellation ist von methodologischen Motiven – Begriffen des Phänomens, der transzendentalen und eidetischen Reduktion, des In-der-Welt-Seins (also die Perspektive der ersten Person) und der Lebenswelt gebaut. Mithilfe dieser neu definierten Termini wurde eine philosophische, sichere Erkenntnis projektiert, die mit unserem alltäglichen Denken konfrontiert wird.
Mit dieser kurzen Analyse sollen die Versäumnisse in Bezug auf die Verknüpfung der Phänomenologie mit den Wissenschaften aufgegriffen werden. Die Frage greift metawissenschaftlich Edmund Husserls methodologische Stellung auf. Diese Reflexionen sollen zu einem besseren Verständnis des phänomenologischen Denkansatzes führen, aber zusätzlich das Stereotyp der „Nutzlosigkeit der philosophischen Reflexion für die wissenschaftliche Tätigkeit“ abbauen.

Edmund Husserl als Wissenschaftstheoretiker
Edmund Husserl’s philosophy of science has often been dismissed or attacked by those who know little about phenomenology; just as often it had been assumed or defended by those who know little about science or the philosophy of science [Hardly 1977: IX].
Eine Gegenüberstellung philosophischen und wissenschaftlichen Denkens bedeutet nicht gleichzeitig, dass einer dieser zwei Wege wertlos sein muss. Manche Kommentatoren Husserls vertreten diese These, aber man könnte seine methodologischen Ansichten – wie häufig bei philosophischen Schriften – unterschiedlich verstehen und interpretieren. Ich möchte die Positionierung Husserls aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive präsentieren. Dieser Philosoph erkennt das Primat der methodologischen Normen und Direktiven nicht an, aber er zweifelt auch nicht an der Wissenschaft selbst. Er möchte durch eine neue Wesenschaft  die Grundlagen, eine Fundierung für die Wissenschaft schaffen – er schlägt Philosophie als strenge Wissenschaft vor [Husserl 1965].
Husserls stellt sich die Frage, warum man eigentlich aus der Philosophie nicht eine ebenso exakte Wissenschaft machen könne, wie es zum Beispiel die Physik ist. Einen Wissensbereich, der allgemein verpflichtende Grundsätze enthält, innerhalb welcher verschiedene Meinungen, persönliche Überzeugungen, willkürliche Fragestellungen keinen Platz haben, und der einen universalen Boden für jede Diskussion bietet. Diese strenge Wissenschaft zu finden und sie mindestens im Umriss darzustellen, hat er zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Aber diese Methodologie der neuen Philosophie muss man klar von der Methodologie der Naturwissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts abgrenzen. Für uns wesentlich interessanter ist die zweite Seite – die Wissenschaftstheorie Husserls. Die Stellungnahmen Husserls können wir mit dem Schlüsselbegriff Wissenschaft analysieren: erstens, als die Art der menschlichen, zielorientierten Tätigkeit, zweitens, als ein Produkt dieser Tätigkeit, die Menge der Theorien. Wenn wir die Wissenschaft als Tätigkeit des Individuums oder der Gruppen verstehen, erinnert uns Husserl an noch zwei weitere Aspekte: an den Lehrprozess und den Prozess der Entdeckung der Probleme und der Lösungen. Über das Lernen schreibt er:
Nirgend ist ja wissenschaftliches Lernen ein passives Aufnehmen geistesfremder Stoffe, überall beruht es auf Selbsttätigkeit, auf innerem Nacherzeugen der von den schöpferischen Geistern gewonnenen Vernunfteinsichten, nach Gründen und Folgen [Husserl 1965: 8].
Er stellt ihm passive Wiederholungen des unbekannten und unverständlichen Stoffes gegenüber; Lernen ist abhängig von begrifflich fest begrenzten und ihrem Sinn nach voll geklärten Problemen, Methoden und Theorien der Wissenschaft, weil Husserl genauso die Vernunfteinsicht versteht. Daraus resultiert, dass die Möglichkeit sich Wissen anzueignen stark bedingt ist: zuerst durch die Hierarchie und systematisierte Organisation der Informationen, und zweitens durch das klare Zeigen der Methode, die der Wissenschaft nutzt.
Wir können mit solchen Einstellungen übereinstimmen, sowohl von der Seite der Lernpsychologie als auch der Philosophie. Die große Bedeutung der Methodologie ist eng mit dem Gegenwärtigen verbunden, nur mit einer Bemerkung – die Methode des Forschers ist nie universell für alle Epochen oder Bereiche. Der Sinn der wissenschaftlichen Methode kann beständig sein, formuliert normalerweise als das Erwerben der Theorien, die wahrhaftig oder wahrscheinlich wahrhaftig sind. Aber die Begriffserklärung und Spezialisierung wird jedes Mal relativ zum aktuellen Stand der Entwicklung in einer konkreten Disziplin gesehen.
Alan Chalmers, zeitgenössischer Philosoph der Wissenschaftstheorie, der schon die gegenwärtige Perspektive einnimmt, betont, dass die Idee einer universellen und ahistorischen Methode des wissenschaftlichen Erkenntnisses praktisch absurd ist. Es ist nur möglich, unsere Instrumente und Methoden zu verbessern, wenn wir Wissenschaft als zeitlich nicht limitierte Suche nach der Verbesserung unseres Wissens konzipieren [Chalmers 2007: 131]. Diese Bemerkung passt sehr gut zu Husserls Intuitionen aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Husserls Konzeption des Wissens und der Methode erscheint als sehr aktuell: Menschheit entwickelt die Technik weiter und so schiebt sich das Ideal der Vollkommenheit immer weiter hinaus. Von daher haben wir auch immer schon einen offenen Horizont erdenklicher, immer weiter zu treibender Verbesserung [Husserl 1996: 24].
Husserl bespricht das Verhältnis des Forschers in Bezug auf die Praxis, er nennt die Entdeckung eine Mischung von Instinkt und Methode [vgl. Husserl 1996: 42]. Primäre Sache wird hier der Sinn des Forschungshandelns. Wie ist das zu verstehen? Die Antwort ist nicht einfach, aber die Verbindung zwischen der Methode und der Wissenschaftskonzeption ist sehr charakteristisch für die ganze Geschichte. Stefan Amsterdamski – polnischer Wissenschaftstheoretiker – erinnert daran, dass nur wenn das Verständnis der Wissenschaft unter Fragenzeichen steht, gleichzeitig alle methodologischen Weisungen infrage gestellt werden können [vgl. Amsterdamski 1983]. Also wenn wir die Antwort und diesen Sinn verstehen möchten, müssen wir die Vision von Husserls Wissenschaft rekonstruieren. Wir gehen daher über zum Thema der Wissenschaft als Produkt menschlicher Tätigkeit.
Obwohl Husserl aus der Cartesianischen Tradition schöpft, sieht er keine Möglichkeit für die Realisierung der idealen Sicherheit der Naturwissenschaften. Entschlossen distanziert er sich von Bacons naivem Induktionismus und vom Glauben an die Erklärungsstärke des Deduktionismus. Es ist ihm unmöglich, das Gebäude der Wissenschaft in nur einer Generation zu bauen:
Generationen und Generationen arbeiten mit Begeisterung an dem gewaltigen Bau der Wissenschaft und fügen ihm ihre bescheidenen Werkstücke ein, sich dessen immer bewußt, daß der Bau ein unendlicher, nie und nimmer abzuschließender sei [Husserl 1996: 61].
Selbstverständlich ist das, was auf wissenschaftlichem Boden nicht möglich ist, möglich auf dem Boden der Philosophie. Das ist die generelle These Husserls und seiner Erkenntnistheorie.
Bei Husserl ändern sich die theoretischen Ideen ständig, aber nicht die gesamten – ein Teil von ihnen soll im Universum der Zeit unabhängig sein und absolute Werte bauen, vor allem zu dieser Menge gehört die Idee der Wissenschaft an sich selbst. Dieser Kern wird aber mit unendlichem Horizont von den noch offenen Fragen und Problemen umgegeben. Husserls Wissenschaft ist sehr dynamisch, die Handlung des Forschers ist systematisch und zielorientiert, einleitend mit dem tiefen Verständnis seiner Tätigkeit.
…jeder exakte Forscher bildet sich «Anschauungen», er blickt schauend, ahnend, vermutend über das fest Begründete hinaus; aber nur in methodischer Absicht, um neue Stücke strenger Lehre zu entwerfen [Husserl 1965: 64].
In dem Bewusstsein, dass Husserl nicht als richtiger Methodologiker sensu stricte spricht und dass er kein derart ausführliches Material von der Geschichte der Wissenschaft zur Verfügung hatte wie wir jetzt, können wir mit reinem Gewissen eine Richtigkeit seiner Reflexion anerkennen. Über den Wert des Risikos und die Bedeutung der mutigen Theorienvorschläge unterrichtet später Popper. Popper hält diese zwei Faktoren für Bedingungen der Entwicklung der Wissenschaft [vgl. Popper 1997].
Das letztere interessante Problem soll im Folgenden thematisiert werden: die Bedeutung der Hypothesen bei Husserl. H. Spiegelberg hält es für einen großen Nachteil des phänomenologischen Denkens, dass es gegen das hypothetische Denken ist [vgl. Baran 1990]. Es ist aber nicht so klar, ob es wirklich so ist. Der Programmruf der Phänomenologie heißt Zu den Sachen selbst!, aber Husserl selbst schließt die Hypothesen als Teil des Prozesses einer sich konstituierenden Wissenschaft nicht aus:
Dieser universale Kausalstil der anschaulichen Umwelt macht in ihr Hypothesen (…) möglich [Husserl 1996: 31].
Wie wir bemerkt haben, hat Husserl die Probleme aufgegriffen, die noch immer Schwerpunkte in gegenwärtigen Diskussionen sind. Seine Lösungen waren nicht immer die genauen Antizipationen der zukünftigen methodologischen Stellungen, aber durchaus wertvoll zu analysieren. Die Phänomenologie in ihrem Ursprung richtete sich nicht gegen die Wissenschaft, was man öfter hört, aber wurde als Konzeption dessen entwickelt, was Wissenschaft aus ihrer Natur nicht ermöglichen konnte.
Das Bild der Wissenschaft, das Edmund Husserl geprägt hat, ist die dynamische Konzeption der Menge der Theorien, deren Kern die stark begründeten und überzeitlichen Theorien sind. An den Erkenntnisgrenzen liegt der Fragenkomplex, der noch immer weiter entwickelt werden soll. Der Mut des Forschers, die Arbeitshypothesen und die Bedeutung der Prädiktionen – das alles ist bereits in der Wissenschaftstheorie Husserls angelegt. Seine Vision lässt die Tür für die wissenschaftliche Evolution offen.
Bestimmt werden Zweifel und die verschiedenen Interpretationen der Originalschriften bei jeder erneuten Leseprobe Husserls erscheinen. Das zeigt die Aktualität dieses Philosophen und lädt zur Lektüre ein. Sowohl die Phänomenologie in sich selbst als auch die Problematik, die in ihren Umkreis aufgebaut wurde, provoziert immer wieder zu erneuten Überlegungen. Eine metawissenschaftliche Reflexion zu Husserl ermöglicht ein besseres Verständnis über das Denken von Wissenschaft und Philosophie – ihre Wege, Aufgaben und Ziele – und wie sich dieses Denken geändert hat. Die Beziehung zwischen beiden (schon in zeitgenössische Bedeutung), erscheint enger, als man sie allgemein heutzutage vorstellt.


Bibliographie:
Amsterdamski, S.: Między historią a metod (Zwischen Geschichte und Methode), Państwowy Instytut Wydawniczy, Warszawa 1983
 Baran, B.:  Fenomenologia amerykańska: studium z pogranicza (Amerikanische Phänomenologie: Grenzstudium), Inter Esse, Kraków 1990
Chalmers, A.: Wege der Wissenschaft, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2007
Husserl, E.: Philosophie als strenge Wissensschaft, Vittoro Klostermann, Frankfurt am Main 1965
Husserl, E.:  Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1996
Hardly, L.: Editor’s Preface [to:] E. Ströker, The Husserlian Foundations of Science, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/ Boston/ London 1997
Meyer-Drave, K.: Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, Wilhelm Fink, München 1987
POPPER, K. R.: Mit schematu pojęciowego. W obronie nauki racjonalności (The Myth of the
Framework. In Defence of Science and Rationality), KiW, Warszawa 1997

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